Kapitalbezug bei Pensionierung ist
ein kapitaler Fehler
Ergänzungsleistungen werden steigen

Dr. Roman von Ah
Ökonomie
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Unser austariertes Zwangsspar-System soll die finanzielle Sicherheit im Alter ermöglichen. 1. Säule: AHV im Umlageverfahren, 2. Säule: BVG im Kapitaldeckungsverfahren sowie freiwillige Einzahlungen in die 3. Säule. Auslandbeispiele – 401K-Pläne der USA, umliegende Länder – zeigen unzureichendes freiwilliges Vorsorgesparen und/oder die Überforderung der Staaten mit der Finanzierung des Umlageverfahrens.
Unser austariertes Zwangsspar-System soll die finanzielle Sicherheit im Alter ermöglichen. 1. Säule: AHV im Umlageverfahren, 2. Säule: BVG im Kapitaldeckungsverfahren sowie freiwillige Einzahlungen in die 3. Säule. Auslandbeispiele – 401K-Pläne der USA, umliegende Länder – zeigen unzureichendes freiwilliges Vorsorgesparen und/oder die Überforderung der Staaten mit der Finanzierung des Umlageverfahrens.
37 Prozent der neu Pensionierten lassen ihr Altersguthaben aus beruflicher Vorsorge (BV) auszahlen. So viele wie noch nie. Weitere 19 Prozent wählen eine Kombination aus Ren-te und Kapital (BfS 2022). Zukünftige Anträge auf Ergänzungsleistungen werden explodieren. Aber der Reihe nach.
Arbeitgeber haben sich aus der Verantwortung geschlichen
Im Leistungsprimat (LP) stehen PK-Renten relativ zum letzten versicherten Lohn. Hohe Rentensicherheit für die Versicherten, zusammen mit der AHV die Gewährleistung gewohnter Lebenshaltung in angemessener Weise sowie automatische Berücksichtigung der Inflation sind die Vorteile. Die Finanzierung ist anspruchsvoll und belastet Arbeitgeber stark. Kein Wunder haben sie diese Risiken mehrheitlich abgeschafft.
Beitragsprimat leistet zu wenig Vorsorge, kompensiert die Inflation nicht und verteilt Geld von Aktiven zu Rentnern
Das in der beruflichen Vorsorge (BV) dominante Beitragsprimat (BP) ist die Antwort auf die Risikovermeidung von privaten und öffentlichen Arbeitgebern im LP. [1]
Das geäufnete Alterskapital mal Umwandlungssatz (UWS) definiert die Pension. Theore-tisch kann das BP ähnliche Leistungen erzeugen, wie das LP. Praktisch kommt das kaum vor. Im BP verschiebt sich das Renten- und das damit verbundene Inflationsrisiko zu den Arbeitnehmenden.
Interessenlagen im Spannungsfeld gesellschaftspolitischer Solidaritäten
Im 2022 wurden CHF 13 Milliarden Kapital ausbezahlt – 15 Prozent mehr als im Jahr davor und 120 Prozent mehr als vor zehn Jahren.
Der Trend zum Kapitalbezug sei kein Zufall. Wer über den nötigen Spielraum verfüge, komme oft zum Schluss, dass der Kapitalbezug (ggü. der Rente) die attraktivere Lösung sei. Zu dieser Attraktivität gehöre Flexibilität, Möglichkeit zur Erfüllung lang gehegter (konsumtiver) Wünsche, ein tieferer Steuersatz, höher rentierliche Anlagechancen und Vererbung des nicht aufgebrauchten Alterskapitals.
So das einschlägige Narrativ von Finanzdienstleistern.
Wer profitiert vom Kapitalbezug?
- Pensionskassen
Vom Kapitalbezug profitieren PKs doppelt: 1. das Langleberisiko verschwindet aus ihren Bilanzen; es wird kapitalbeziehenden Pensionisten aufgebürdet. 2. Überdeckungen von Leistungsverpflichtungen (Deckungsgrad > 100%) bleiben pro rata bei den Vorsorgern; sie werden beim Bezug nicht mitgegeben. - Finanzdienstleister
Der Kapitalbezug wird im besten Fall reinvestiert. Eine individuell erbrachte Anlageberatung und / oder Vermögensverwaltung dürfte 4-6x teurer sein als im Kollektiv der wettbewerblich organisierten 2. Säule. Kein Wunder, wird der Kapitalbezug stark beworben. - Neu-Rentner mit tiefer Lebenserwartung
Wer erwartet, in der linken Hälfte der Mortalitätsverteilung (zu) vorzeitig zu sterben, profitiert vom Kapitalbezug („negative Selektion“) auf dem Buckel des Kollektivs.
Gelackmeierte Gesellschaft beim Kapitalbezug?
Die Lebenserwartung steigt stetig und liegt bei rund 82 (Männer) und 85 (Frauen) Jahren. Viele Menschen erwarten länger zu leben. Gesunde Pensionisten sollten sich mindestens auf 25-30 Jahre Restlebenszeit einstellen.
Die private Langlebe-Risikoabsicherung (LLR) dürfte für 90% der Schweizer Bevölkerung nicht möglich sein. Mit dem Kapitalbezug die Finanz-Situation im Alter zu erhöhen, unterschätzt die hohen Kosten von Annuitäten („Selbstüberschätzung“). Zusätzliche Ausgaben zu stemmen und/oder Kindern Erbschaften zu hinterlassen, verkennt die Herausforderungen.
Ist das bezogene Kapital verbraucht, werden unvorhergesehene Ausgaben, Krankheiten oder Alters-/Pflegeheimkosten schnell zu Mühlsteinen am Hals. Die AHV rettet vor dem Ertrinken nicht; sehr wohl aber Anträge auf Ergänzungsleistungen.
Die Privatisierung von Vorteilen und Sozialisierung der Nachteile erfolgt auf Kosten der Allgemeinheit und dem Buckel jüngerer Generationen. Kapitalbezüge sind, falls überhaupt zulässig, stark zu limitieren. Ein Ansatz könnte sein, Teilbezüge von Kapital nur dann zu ermöglichen, wenn die Rente aus der beruflichen Vorsorge mindestens Tsd. 50 im Jahr beträgt.
[1] : Botschaft ‘Einführung BVG-Obligatorium’ (19.12.1975) formulierte das Leistungsziel (LZ) im Sinne des LPs. (Art. 15). LZ im Sinne BP (z.B. UWS) fand via parlamentarische Diskussion Eingang ins Gesetz.
Dieser Text wurde, redigiert und leicht gekürzt, unter dem Titel "Für steigende Ergänzungsleistungen ist gesorgt / La hausse des prestations complémentaires est assurée" auf der Internet-Plattform der Fachzeitschrift "Schweizer Personalvorsorge / Prévoyance Professionnelle Suisse" im September 2024 publiziert.